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Am Mittwoch, den 01. Juli 2015, richtete das Projekt RAUS bei unserem langjährigen Partner, Sofitel Berlin Kurfürstendamm, die Fachkonferenz „Alphabetisierung und Grundbildung im Strafvollzug“ aus. Unter den 50 Teilnehmenden waren überwiegend Vollzugslehrer, Bildungsplaner, Bildungsverantwortliche sowie ministeriale Vertreter aus Justiz- und Bildungsressorts. Die Fachkonferenz wurde gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF).
Nach der Eröffnung durch Moderator Lothar Guckeisen, sprach Frank-Ullrich Eichhorn im Namen der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz des Landes Berlin ein herzliches Willkommen an die Tagungsgäste, die aus dem gesamten Bundesgebiet angereist waren. Herr Eichhorn begrüßte die „spannende Themenauswahl“ und machte bereits zu Beginn der Veranstaltung deutlich, dass eine so bedeutende Herausforderung, wie die Grundbildung, im Justizvollzug als ressortübergreifende Aufgabe verstanden werden müsse, um dem Problem angemessen begegnen zu können.
Frank-Ullrich Eichhorn begrüßt die bundesweit angereisten Teilnehmenden zum Auftakt der Fachkonferenz
Anschließend zog Projektleiter Tim Tjettmers eine kurze Bilanz aus den vergangenen drei Jahren intensiver und spannender Projektarbeit. Es wurde deutlich, wie differenziert das Feld der Gefängnisalphabetisierung betrachtet werden muss: Während man mit den Grundbildungsangeboten im Jugendstrafvollzug im Bundesdurchschnitt eher zufrieden sein kann, lässt sich in der Angebotsstruktur des Erwachsenenvollzugs deutlich Verbesserungspotential erkennen. Zugleich nutzte er die Gelegenheit, "all jenen meinen Dank auszusprechen, die uns als Modellstandort, im Projektbeirat oder auf ministerialer Ebene aktiv bei der Umsetzung des Projekts unterstützt haben.“ [...zum Vortrag im Wortlaut]
Tim Tjettmers zieht Bilanz über drei erfolgreiche Projektjahre und stellt die im Projekt gewonnenen Ergebnisse vor
Für die anschließende Podiumsdiskussion nahmen sich neben dem Bundestagsabgeordneten und Botschafter für Alphabetisierung Oliver Kaczmarek (SPD) auch Referatsleiter Peter Munk vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, Dr. Eva-Maria Bosch aus dem brandenburgischen Ministerium für Bildung, Jugend und Sport, Joachim Reinemann aus dem Ministerium für Justiz und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen sowie der Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Lehrerinnen und Lehrer im Justizvollzug Klaus Vogel eine Stunde Zeit, um über den „Weg zur Nationalen Dekade … Alphabetisierung und Grundbildung als ressortübergreifende Aufgabe“ zu diskutieren.
Podiumsdiskussion v.l. Klaus Vogel, Oliver Kaczmarek, Lothar Guckeisen, Peter Munk, Eva-Maria Bosch, Joachim Reinemann
MdB Oliver Kaczmarek machte zu Beginn der Diskussion deutlich: „Wir wollen als regierungstragende Fraktion im Grundbildungsbereich verbindliche Fortschritte erzielen!“. So könne, neben der Sensibilisierung der Öffentlichkeit, eine Fördermöglichkeit, die Verstetigung von Netzwerken und die Vernetzung auch auf der Ebene der Praktiker darstellen.
Peter Munk verwies auf die Ausdauer, die das Thema Grundbildungsarbeit erfordere, und begrüßte daher die Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung als verlässliche Perspektive über einen längeren Zeitraum. „Jeder der sich mit Alphabetisierung befasst, weiß dass wir die Zahl der 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten in Deutschland nicht in drei Jahren halbieren können.“ so Munk.
Wie heterogen die Situation der Alphabetisierung und Grundbildung im Strafvollzug aussieht, wurde auch auf dem Podium noch einmal sehr deutlich. In Nordrhein-Westfalen, berichtete Joachim Reinemann, kommen auf rund 100 Lehrerinnen und Lehrer etwa 18.000 Inhaftierte. Dementsprechend müssten besondere Leistungen wie Alphabetisierung mit Hilfe knapper Ressourcen von externen Spezialisten eingekauft werden. In Brandenburg, erläuterte Dr. Eva-Maria Bosch, gebe es dank Geldern aus dem europäischen Sozialfond (ESF), eher ein Finanzierungsüberangebot für Grundbildungsmaßnahmen. Im ländlich geprägten Brandenburg bestünde das Problem eher in der Akquise geeigneten Fachpersonals für die Grundbildungsarbeit hinter Gittern.
Doch auch das Klientel, also die Insassenpopulation, unterliege einem Wandel: „Wir haben zunehmend Personen, die auch in ihrer Herkunftssprache nicht alphabetisiert sind und wir müssen Lösungen finden diesen Menschen eine Form von Integration zu bieten.“ beschreibt Joachim Reinemann die Situation in NRW.
Der Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Lehrerinnen und Lehrer, Klaus Vogel, skizzierte die lange Tradition der Grundbildungsarbeit der Lehrerinnen und Lehrer in deutschen Gefängnissen, doch auch er merkte an: „…mit den Ressourcen die tatsächlich im Vollzug für die Grundbildungsarbeit ankommen, können wir noch nicht ganz zufrieden sein.“
In der Gesprächsrunde der Praktiker, an der Susanne Guthoff aus der JVA Hamburg-Billwerder, Sabine Brede aus der JVA Frankfurt III und Tim Henning vom Projekt RAUS und der JVA Münster teilnahmen, traten weitere Probleme der Alphabetisierungsarbeit hinter Gittern zutage. Es dürfe nicht sein, dass Mitarbeitende einer Anstalt vor Beginn des Alphabetisierungskurses sagen: „Ich muss jetzt die Loser-Gruppe abholen.“. Hier müsse sich noch vieles in den Köpfen der Insassen aber auch in den Köpfen des Anstaltspersonals verändern, um zu einer erfolgreichen Arbeit beizutragen. Sabine Brede unterstrich deutlich: „Alphabetisierungsarbeit in Haft muss gelebt werden, wir können in Gesetzestexten hunderte Seiten damit füllen, solange keine Leute das Thema vertreten und leben, wird sich nichts ändern!“
Den Auftakt am Nachmittag bildete der Vortrag „Alphabetisierung und Grundbildung als Voraussetzung beruflicher Integration Straffälliger“ von der Leiterin der sozialen Dienste in Berlin, Gabriele Grote-Kux. In ihrem Vortrag wurde deutlich, dass der Justizvollzug, rein verfassungsgemäß, einen bildungspolitisch relevanten Ort darstellt, diese Stellung aber de facto nicht innehat. Frau Grote-Kux bemängelte die fehlende Einbindung des Lernortes JVA in die Bildungspolitik und forderte eine bessere systemische Verankerung von Bildung im Strafvollzug. Zwar verwies sie auch auf Erkenntnisse, die besagen, dass Bildung allein Kriminalität nicht reduzieren könne, wohl aber ein wichtiger Baustein im Mosaik der Resozialisierungsarbeit darstelle. „Wir tun gut daran, Weiterbildung nicht im Freizeitrahmen anzubieten, sondern im Zuge bezahlter Beschäftigung“, erläutert Grote-Kux. [...zur Präsentation]
Anschließend bot das World-Café den Teilnehmenden bei Kaffee und Kuchen die Möglichkeit zum lockeren Austausch gerahmt von drei für die Grundbildungsarbeit im Gefängnis relevanten Fragestellungen:
Welche Netzwerke braucht der Vollzug für seine Grundbildungsaufgaben?
Teilnehmende unterstrichen hier nochmals die Bedeutung auch regionaler und lokaler Bündnisse, die z.B. seit Kurzem die Arbeit in Nordrhein-Westfalen begleiten. Runde Tische, die den Kontakt zwischen Strafanstalten, örtlichen Arbeitsagenturen, Volkshochschulen, Kammern und freien Weiterbildungsträgern in regelmäßigen Abständen aufrecht erhalten, werden als äußerst bereichernd empfunden und nach wie vor der Möglichkeit von Online-Vernetzung vorgezogen. Die zunehmende Einrichtung von Grundbildungszentren in den Ländern wurde von den Praktikern aus dem Strafvollzug mit großem Interesse aufgenommen und eine Beteiligung solcher Zentren an den „Runden Tischen“ sollte angestrebt werden. Das gemeinsame Know-How der Grundbildungszentren und der Strafanstalten ließe sich beispielsweise zum Beantragen von ESF-Mitteln nutzen.
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Angeregter Austausch beim World-Café
Ist Grundbildung die logische Antwort auf die aktuelle Klientel im Strafvollzug?
Zunächst steht die Frage im Raum, welche Bereiche der Begriff „Grundbildung“ genau umfasst. Einigkeit besteht darin, dass es bei dem Begriff Grundbildung vorrangig um die Zielgruppe von Menschen geht, die im Sinne des funktionalen Analphabetismus in erster Linie nicht hinreichend lesen und schreiben können. Der Begriff der Grundbildung erweitert diese Kompetenzen um mathematische Grundkompetenzen und alltagspraktisches Wissen, die curricular zu berücksichtigen sind.
Dies führt zu einer nötigen Ausdifferenzierung der Angebote, um eine nicht defizit- sondern teilnehmerorientierte Ausgestaltung der Angebote zu gewährleisten. Vor einem ressourcenorientierten, ausdifferenzierten Grundbildungsangebot, müsse aber zunächst durch Bedarfsanalysen der Inhalt im Grundbildungssegment der jeweiligen Anstalt für Alphabetisierung, DaF/DaZ-Angebote, Sozial-Kompetenztrainings etc. ermittelt werden.
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Welche Diagnostik zur Bedarfsklärung wird benötigt?
In mehreren Ländern ist ein Kompetenzfeststellungverfahren zu Beginn der Haftzeit eingeführt worden. Verschiedene Ansätze wurden zusammengetragen. Im Berliner Strafvollzug soll es ab 2016 zentral von der JVA Moabit durchgeführt werden. Die Bedarfsklärung soll systematisch über einen längeren Zeitraum fortgeführt werden. Lese- und Schreibkompetenzen werden in diese Diagnostik mit aufgenommen.
Bezogen auf die praktische Umsetzung stellte sich die Frage, wer den Bedarf feststellt. In der Regel wird dies durch den Sozialen Dienst bzw. Gruppenleitungen durchgeführt, zum Teil unterstützt durch Bildungsverantwortliche. Einen anderen Weg geht zum Beispiel die JVA Freiburg. Im Anschluss an das Zugangsgespräch wird jeder Gefangene durch den Schuldienst einbestellt und auf das Bildungsangebot während der Haftzeit hingewiesen.
Eine große Gefahr wurde darin gesehen, dass durch die Kompetenzfeststellung eine Bildung nach Kennzahlen erfolgt, d.h. dass formal abgehandelt wird, mit wie vielen Kursen wie viele Teilnehmer erreicht worden sind, ohne auf die individuellen Bedarf der Insassen einzugehen. Dies sei nicht zielführend.
Als praktische Diagnostikinstrumente für Grundbildungsbedarf wurden unter anderem benannt: Hamet (bbw Waiblingen), RAUS-Diagnostik, Diagnostikunterlagen des BVP F/M.
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Die RAUS-Fachkonferenz zeigte auf, dass Alphabetisierung und Grundbildung erfreulicherweise gesellschaftspolitisch und bildungspolitisch an Stellenwert gewinnt. Auch im Strafvollzug wird es wieder verstärkt als vollzugsrelevantes Thema wahrgenommen. Nach über 40 Jahren der Straffälligenalphabetisierung besteht noch Handlungsbedarf für ein flächendeckendes und bedarfsgerechtes Grundbildungsangebot.
Strafvollzug ist verstärkt als bildungsrelevanter Ort zu verstehen, der systematisch verankert werden sollte, aber eben auch vor Ort von den Akteuren gelebt werden muss. Insbesondere die Grundbildung ist kein Thema, das als zentral eingerichtetes Angebot zum Erfolg führt: Entsprechende Angebote müssen mit Überzeugungskraft an den Mann/an die Frau gebracht werden.
Vor dem Hintergrund der Veränderungen der Vollzugsklientel, ist Grundbildung auch zukünftig eine zentrale Aufgabenstellung des Vollzugs. Gerade im Rahmen der angekündigten Nationalen Dekade sollte der Strafvollzug als Bildungsort einbezogen werden.
Am 01. Juli 2015 fand die RAUS-Fachkonferenz "Alphabetisierung und Grundbildung im Strafvollzug " im Sofitel Berlin Kurfürstendamm statt. Zur Dokumentation gelangen Sie hier.
Kostenlose Schulungen für Multiplikatoren aus den Bereichen Strafvollzug und Straffälligenhilfe durch. Mehr Informationen hier.
Zum Welttag des Buches 2015 wurde der Materialienpool veröffentlicht. Zum Materialienpool gelangen Sie hier.
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